"Dazu muss man kein Ermittler sein."

"Dazu muss man kein Ermittler sein."

Presseerklärung des Nebenklagevertreters Rechtsanwalt Peer Stolle vom 20. Januar 2015

Heute wurden die ersten Geschädigten des Kölner Nagelbombenanschlages in der Keupstraße v. 9. Juni 2004, bei dem über 20 Personen zum Teil schwer verletzt worden sind, gehört. Einer der Geschädigten hat schon bei seiner damaligen polizeilichen Vernehmung die These, dass der Anschlag nicht vor dem Hintergrund einer Schutzgelderpressung begangen sein kann, geäußert. Dazu müsse man kein Ermittler sein, so der Zeuge, um zu erkennen, dass diese These keinen Sinn mache.

 "Es nagt an einem; der Gedanke zu wissen, wie schnell alles vorbei sein kann"

Zunächst wurde Sandro D. gehört, der an dem Tag mit seinem Freund Melih K. in Köln-Mühlheim unterwegs war. Nachdem sie in der Keupstraße was gegessen hätten und zu ihrem Auto gegangen seien, habe er auf der Höhe des Friseursalons einen Druck von hinten gespürt, so wenn jemand einem die Beine wegschießt. Seine Beine seien nach vorne geflogen, so dass er mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug. Er habe nur noch Qualm gesehen, alles um ihn herum sei kaputt gewesen, so der Zeuge weiter. Er habe nichts mehr hören können, viele hätten auf in eingeredet, aber er habe nichts verstehen können. Sein Kumpel habe neben ihm gelegen und habe sich nicht mehr bewegt. Er habe ihn angesprochen, aber keine Antwort vernehmen können. Er habe nicht gewusst, ob sein Freund noch lebt.

Die von ihm erlittenen Verletzungen seien vielfältig gewesen. Beide Trommelfelle waren kaputt, Nägel steckten in den Beinen und im Rücken, Verbrennungen an der Schulter, zwei Finger hätte er fast verloren. Im Krankenhaus sei er zunächst verdächtigt worden, mit seinem Kumpel zusammen das Fahrrad mit der Bombe in der Keupstraße abgestellt zu haben. Ihm sei untersagt worden, seinen Freund Melih K., der auch im Krankenhaus behandelt wurde, zu kontaktieren. Das Unwissen über den Gesundheitszustand seines Freundes habe, so Sandro D., seine Genesung weiter verzögert.

Wegen der gesundheitlichen Probleme musste er seinen alten Job als Zerspanungstechniker aufgeben. Ein paar Hilfstätigkeiten habe er ausüben können, vorwiegend sei er aufgrund der Verletzungen aber arbeitssuchend. Sandro D. leidet noch heute an den Folgen des Nagelbombenanschlags. Er kann keinen Sport treiben, hat immer noch große Schwierigkeiten mit dem Bewegungsradius seines linken Arms, insbesondere der Hand. Sein Körper zeigt viele Narben auf, von dem Nägeln, den Verbrennungen und den Hauttransplantationen. Er ist auch heute noch in psychotherapeutischer Behandlung. Solange nicht bekannt war, wer die Täter waren; jetzt sei alles wieder hochgekommen. Seine Therapeutin meint, dass erst nach dieser Zeugenaussage eine richtige Aufarbeitung stattfinden könne.

Im Anschluss hat der den Zeuge behandelnde Arzt noch die entstandenen Verletzungen präzisiert und ausgeführt. Der Sachverständige zeigte Röntgenbilder, auf denen deutlich die Nägel, die in den Beinen steckten, abgebildet waren.

 Der nächste Zeuge war Melih. K., der Kumpel und Begleiter von Sandro D. Er konnte sich noch daran erinnern, dass es ein sonniger Tag gewesen war. Auf einmal habe es einen lauten Knall gegeben, seine Beine seien weggerissen und er selbst auf den Boden geschleudert worden. Dann habe er nur noch sehen können, dass alles in "Schutt und Asche" liege. Durch die Stichflamme habe er selber an den Haaren Feuer gefangen und musste gelöscht werden. Neun Nägel hätten in seinem Körper gesteckt, dazu noch Fremdkörper. Über hundert Splitter habe er im Gesicht und in der Netzhaut gehabt; ein kleiner Teil stecke immer noch in der Haut; die meisten seien raus operiert worden. Wegen der Schmerzen sei er ins künstliche Koma versetzt worden, er wurde mehrmals operiert. Für einen Monat war er im Krankenhaus. Auch der Zeuge Melih K. hat berichtet, dass er zunächst keinen Kontakt zu seinem Freund Sandro D. haben dürfte, weil sie beide der Tat verdächtig gewesen seien. Der Zeuge musste seine Ausbildung abrechen, da er dafür aufgrund der erlittenen Verletzungen nicht mehr geeignet war. Erst 2011 ging es wieder voran; in dem Jahr hat er eine Umschulung begonnen und die jetzt auch abgeschlossen. Melih K. berichtet weiter, dass er heute noch in psychotherapeutischer Behandlung ist. Er leidet heute noch an den physischen und psychischen Folgen.

Der Zeuge Melih K. hat schon damals in seiner polizeilichen Vernehmung geäußert, dass der Anschlag von Nazis verübt worden sei, die "soviel wie möglich Menschen ins Grab ziehen wollten." Er habe gehört, dass behauptet werde, der Anschlag hätte dem Friseurladen gegolten. Er habe das niemals geglaubt. Eine Schutzgelderpressung als Hintergrund mache doch keinen Sinn, so der Zeuge, dann hätte man sich den Friseur allein vorgenommen, und nicht einen Anschlag verübt, der viele Unschuldige trifft.. Er habe schon damals gesagt, dass es selbsterklärend sei; wenn der Anschlag dem Friseurladen gegolten hätte, dann hätte man das nicht auf öffentlicher Straße, wo viele Leute vorbeigehen, machen müssen, das mache doch keinen Sinn, da trifft man doch nur Unschuldige, um das zu verstehen, muss man kein Ermittler sein.

Der Arzt, der ihm an den Tag behandelt hatte, berichtete von der Schwere der erlittenen Verletzungen. Neben den Verbrennungen konnten zehn weitere separate Verletzungen festgestellt werden. Es war so kompliziert, dass er sich als operierender Arzt sogar eine Skizze hat fertigen müssen. Auf den von ihm mitgebrachten Lichtbildern war erkennbar, wie großflächig und schwerwiegend die erlittenen Verletzungen und Verbrennungen waren.

Am Nachmittag wurde als weiterer Geschädigter Herr Atan S. angehört. Er war mit seiner Frau und seiner Schwester an dem Tag in der Keupstraße und hat sich spontan entschlossen, die Haare schneiden zu lassen. Keine zehn Minuten, nachdem er im Friseursalon Platz genommen hatte, sei es zur Explosion gekommen. Er habe Verletzungen am Kopf und Schulter gehabt, mehrere Nägel- und Gassplitter hätten in seinem Körper gesteckt und hätten entfernt werden müssen. Er leide noch heute unter Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Lebensqualität, so der Zeuge, sei total runter gegangen. Er könne nachts nicht schlafen, sei unruhig, leide unter Schweißausbrüchen und Schwindelgefühlen. Er traue sich nicht unter die Menschen, sein Gehör sei stark beeinträchtigt. Vorher hätte er beim Schlüsseldienst und als Taxifahrer gearbeitet, sei jetzt aber erwerbsunfähig.

Zum Schluss wurde noch ein weiterer Besucher des Friseursalons angehört. Der Zeuge Kemal G. berichtete, dieser Anschlag sei ein Wendepunkt in seinem Leben gewesen. Er sei als politischer Flüchtling nach Deutschland gekommen; dieses demokratische Deutschland habe ihm jetzt einen Teil genommen. Er habe im Salon gesessen, als es plötzlich einen lauten Knall gab und die Schaufensterscheibe hinter ihm zerbarst. Er sei nach hinten geschleudert worden, überall sei Rauch gewesen. Dann habe er Flammen gesehen, die immer näher gekommen seien. Ein Mitarbeiter habe die Hintertür geöffnet; sie hätten Angst um ihr Leben gehabt. In dem Moment habe er sein Leben an sich vorbeiziehen sehen.

Rechtsanwalt Stolle erklärt dazu: "Die Aussagen der Geschädigten belegen in erdrückender Weise die tödliche Wucht, die von dieser Bombe ausging. Die Macher dieser Bombe kannten nur ein Ziel: So viele Menschen wie möglich töten und verletzen. Nur durch ein Zufall ist kein Mensch zu Tode gekommen."

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