"Ich dachte, ich wäre in der Hölle angekommen."

Presseerklärung des Nebenklagevertreters Rechtsanwalt Peer Stolle vom 21. Januar 2015

Die Vernehmung der Geschädigten des Nagelbombenanschlages v. 9. Juni 2004 wurde heute fortgesetzt. Die Zeugen berichteten wieder von der Schwere der Folgen des Anschlages und der Behandlung durch die Polizei, die in den Geschädigten eher die Täter vermuteten.

Am Morgen wurde Gerd H. vernommen, der an dem Tattag mit einem Fahrrad in der Keupstraße unterwegs war. Nachdem er an dem Friseurladen vorbei gewesen sei, hörte er hinter sich einen lauten Knall, den er nie in seinem Leben vergessen werde. Eine 25-30 m hohe Rauchwolke, so der Zeuge, sei aufgestiegen. Die Schmerzen im Kopf und in den Ohren seien unvorstellbar schlimm gewesen. Der Arzt habe ein Knalltrauma diagnostiziert; noch heute habe er ein Rauschen im Kopf.

Im Anschluss berichtete Metin I., der in der Keupstraße ein Juweliergeschäft betreibt, von dem Tattag. Er habe an dem Tag vor seinem Geschäft, das schräg gegenüber des Friseursalons liegt, gesessen, als er einen lauten Knall gehört habe und auf den Boden geschmissen worden sei. Zuerst habe er gedacht, es wäre eine Gasflasche explodiert. Überall hätten Nägel auf dem Boden gelegen. Er selbst habe Nägel an der Schulter und im Bein gehabt. Wenn er jetzt jemanden auf der Keupstraße mit dem Fahrrad oder mit einem Rucksack sehe, falle ihm immer der Anschlag ein und er gehe dann lieber in seinen Laden rein. Durch den Anschlag seien die Geschäfte in der Keupstraße stark zurückgegangen.

Emine K. war am Tattag in dem Geschäft ihres Bruders, das direkt an den Friseursalon angrenzte. Sie habe in der Nähe der Eingangstür gestanden, als es plötzlich einen lauten Knall gegeben habe und die Schaufensterscheibe zerbarst. Sie habe einen brennenden Mann gesehen und sofort versucht, ihn zu löschen. Dann sei sie ohnmächtig geworden und erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Seitdem leide sie unter Konzentrationsschwierigkeiten, weswegen sie auch keine Arbeit bekomme. Zur Zeit befände sie sich immer noch in Therapie.

Weiter wurden vier Besucher des Friseursalons vernommen. Alle vier beschrieben einen lauten Knall, es sei stockdunkel geworden, überall Rauch, der Boden bedeckt mit Scherben von der zerborstenen Schaufensterscheibe. Fatih K., dessen Gehör geschädigt wurde und der Verletzungen am Hinterkopf hatte, sagte, es habe so ausgesehen, als ob der Krieg ausgebrochen wäre. Atila Ö. steckte ein Nagel im Hinterkopf. Er habe dies zuerst gar nicht bemerkt; erst als ihn andere aufmerksam gemacht hätten, habe er den Nagel gespürt. Wegen den ganzen nachfolgenden Krankschreibungen habe er seinen Job als Staplerfahrer verloren.

Abdullah Ö. dachte, er wäre in der Hölle angekommen. Er habe jede Menge Scherben im Kopf stecken und eine Schnittwunde im Hals gehabt. Noch heute leide er unter Schlafstörungen.

Die Zeugen haben unisono berichtet, dass ihnen während der Vernehmung bei der Polizei Fingerabdrücke und Speichelproben für DNA-Tests abgenommen worden sind. Der Zeuge Fatih K. fühlte sich als Verdächtiger; die Fragen der Polizei hätten sich auf das Drogen- und Rotlichtmilieu und mögliche PKK-Verbindungen bezogen. Abdullah Ö. musste sich sogar bei der Vernehmung ausziehen mit der Begründung, mögliche Schmauchspuren feststellen zu wollen.

Zum Schluss wurde der Bruder des Inhabers des Friseursalons vernommen, der an dem Tattag in dem Laden arbeitete. Er konnte ziemlich genau den Mann beschreiben, der das Fahrrad vor den Friseursalon abstelle: ca 1,80 groß, Basecap, Koteletten, blonde Haare, heller Typ. Er sah ihn, als dieser sein Fahrrad abstellte. Wir haben uns in die Augen geschaut, beschrieb der Zeuge die Situation. Einige Minuten später gab es einen lauten Knall, eine Druckwelle, er und die anderen hätten überall geblutet. Als er auf die Straße gegangen sei, habe es ausgesehen, wie in einer Kriegsszene.

Obwohl der Zeuge ein ziemlich genaues Bild vom Täter zeichnete, verhinderte der institutionelle Rassismus in der Polizei eine Ermittlung in die richtige Richtung. So berichtete der Zeuge, dass Vernehmungsbeamte ihn, als er die Täterbeschreibung abgab, gefragt habe, ob der Mann nicht etwas dunkelhäutiger gewesen sei. Ihm wurde Lichtbilder vorgelegt, die wohl von Tatverdächtigen aus anderen Verfahren stammten. Eine Lichtbildmappe von Personen, die seiner Täterbeschreibung entsprachen, wurde ihm offensichtlich nicht vorgelegt. Überprüft werden kann das nicht, da sich die Lichtbildmappe nicht in den Akten befindet. Der Zeuge beschrieb weiter, dass sie wie Beschuldigte vernommen worden seien. Seinem Bruder sei Versicherungsbetrug vorgeworfen, obwohl der Salon gar nicht versichert gewesen sei. Als er sich später mal nach dem Stand der Ermittlungen erkundigt habe, wurde ihm seitens des Polizeibeamten gesagt, er solle einfach selbst die Frage beantworten. Wenn er der Polizei den Namen des Bombenlegers liefere, so die Beamten, würden sie ihm eine neue Lebensgrundlage schaffen. Erst 2011, als die Verantwortlichkeit des NSU für den Anschlag feststand, fühlte er sich rehabilitiert.

Morgen wird die Hauptverhandlung mit der Vernehmung von weiteren Geschädigten des Nagelbombenanschlages in der Keupstraße fortgesetzt.

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