Rechtsanwalt Dr. Stolle plädiert im NSU Prozess
Die Entwicklung des NSU aus der Sektion Jena des THS heraus
Rechtsanwalt Dr. Peer Stolle vertritt seit Beginn des Verfahrens Ergün Kubaşık, den Sohn des in Dortmund am 4. April 2006 ermordeten Mehmet Kubaşık. Unter dem 23. November hielt er nun sein Plädoyer im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Das Plädoyer reiht sich in einen gemeinsam abgestimmten Vortrag der Nebenklagevertreter_Innen Carsten Ilius, gemeinsam mit Elif Kubaşık, Sebastian Scharmer, gemeinsam mit Gamze Kubasik, Berthold Fresenius, Stephan Kuhn, Dr. Björn Elberling, Alexander Hoffmann und Antonia von der Behrens ein. Die gesamten Plädoyers können hier selbstverständlich nicht wieder gegeben werden. Allerdings sollen zu jedem der gemeinsam abgestimmten Vorträge hier eine kurze Zusammenfassung und jeweils ausgewählte Zitate wiedergegeben werden.
Thema des Plädoyers von Dr. Stolle:
Das Augenmerk des Plädoyers ist auf die Entstehung des NSU gerichtet. Es geht um die ideologische Radikalisierung, aber auch um die zunehmende Eskalation der Propaganda-Taten der Sektion Jena des Thüringer Heimatschutzes. Die Gründung des NSU und die von seinen Mitgliedern und Unterstützern begangenen Straftaten stellen keinen Bruch und keinen Sonderweg einiger besonders radikalisierter Mitglieder der rechten Szene Thüringens dar, sondern sind logische Folge der Situation in den 1990er Jahren in Thüringen und speziell in Jena.
Inhalts-Zusammenfassung:
Das Plädoyer beginnt mit der Beschreibung der spezifischen gesellschaftlichen Situation in Ostdeutschland Anfang der 1990er Jahre. Das Plädoyer stellt dann unter Wiedergabe biografischer Details sogleich klar, dass der Hintergrund für die Entwicklung der Angeklagten sowie Mundlos' und Böhnhardts aber keineswegs war, dass sie so genannte "Wendeverlierer" gewesen wären.
Die Basis für deren Entwicklung bildete dem Plädoyer zufolge vielmehr, dass die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf deutschem Boden nicht dagewesene rassistische und nationalistische Stimmung Anfang der 1990er Jahre auch Ausdruck in einem massiven öffentlichen Auftreten einer extrem rechten und zum Teil neonazistischen, vor allem aber rassistischen Jugendbewegung fand. Nach dem Plädoyer zeichneten sich solche rechten Jugend-Cliquen, wie die um Böhnhardt und Mundlos aus dem Winzerclub, durch eine permanente Gewaltbereitschaft und exzessive Gewalttätigkeit aus, die sich gegen alle richtete, die nicht in ihr Weltbild passten: linke, alternative Jugendkulturen, Homosexuelle und vor allem Migranten oder „nicht deutsch“ aussehende Menschen.
Das Plädoyer beschreibt dann die Geschichte der Organisierung der rechten Szene Ostdeutschlands; zunächst durch Kader der sogenannten Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front; in Thüringen durch den als V-Mann enttarnten Kai Dalek. Nach dem aus Sicht der Rechten bedeutsamen „Hess-Marsch“ in Thüringen im Jahr 1992 baute dann Tino Brandt die thüringische Vernetzung auf, aus der später der THS hervorging. Das Plädoyer hält fest, dass der THS ein landesweiter Verbund von militanten Kameradschaften mit einer klaren Hierarchie war, gegründet mit dem expliziten Ziel, ein professioneller politischer Faktor zu werden. Im Plädoyer werden anhand von Zeugenaussagen die Kernpunkte der Ideologie des THS zusammen gefasst.
Das Plädoyer geht dann auf die Situation in Jena ein, wo sich die Professionalisierungs- und Organisierungstendenz der thüringischen rechten Szene ebenfalls zeigte. Die Sektion Jena war eine eingeschworene Gemeinschaft, die auf Qualität statt Quantität und damit auf weniger, dafür aber gefestigte Leute setzte; eine Kameradschaft, die elitär gewesen ist; deren Mitglieder durch persönliche Freundschaft und ein gefestigtes ideologisches Selbstverständnis miteinander verbunden waren. Das Plädoyer fasst zusammen: Die Mitglieder der Sektion Jena, innerhalb derer Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt als
Autoritäten wahrgenommen wurden, zeichneten sich durch ein hohes ideologisches Bewusstsein und die Bereitschaft zu gezielten gewalttätigen politischen Aktionen aus.
Ausführlich befasst sich das Plädoyer mit den sogenannten Richtungsdiskussionen innerhalb der Sektion Jena, in denen nach Zeugenaussagen über die Option des bewaffneten Kampfes und über das in der Szene wichtige Konzept der Zellenbildung gesprochen wurden.
Zentrale These des Plädoyers ist, dass die Vereinigung, die später als NSU bekannt wurde, schon vor dem Abtauchen von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bereits in Jena gegründet wurde. Dafür führt das Plädoyer neben der Ideologie die umfangreiche Reihe der Propaganda-Taten auf, die die Sektion Jena in den Jahren ab 1995 begangen hat. Es gab ein Schema der Eskalation der Taten, indem auf Bombenattrappen Briefbomben mit der Ankündigung eines „Bombenjahres“ und schließlich die Verwendung von TNT und Schwarzpulver folgte.
Dass die Vereinigung auch bestehen blieb, als 1998 Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Jena in Richtung Chemnitz verließen, erklärt das Plädoyer mit der weiterhin engen Verbundenheit, der großen Bereitschaft, zu helfen, und dem offenen Umgang mit Informationen zu begangenen Taten.
Das Plädoyer schließt mit den Worten: Der THS, der NSU, die Kampagne „Volkstod stoppen“; es ist derselbe völkische, gewalttätige, mörderische Rassismus. Ein Rassismus, dem der Vater meines Mandanten, Herr Mehmet Kubaşik, zum Opfer gefallen ist. Der Wahn, eine vermeintliche Identität eines Volkes zu bewahren, die deutsche Nation zu erhalten, zeigte dadurch seine mörderische Konsequenz.
Zitate:
Rechtsanwalt Dr. Stolle stellt klar:
„Eine extrem rechte Jugendszene und eine entsprechende gesellschaftliche Stimmung – dies allein lässt keinen Rechtsterrorismus wie den NSU entstehen. Dazu braucht man auch ein Netzwerk, auf das man zählen kann; Kontakte, auf die man im Ernstfall zurückgreifen kann. Man benötigt entsprechende Konzepte, die man vorher in der Szene, mit den Kameraden, diskutiert hat. Es bedarf ferner einer gemeinsamen und verbindenden Ideologie, die sich nicht auf eine diffuse Ablehnung von Ausländern reduziert, sondern einer Ideologie, die es ernst meint mit – ich zitiere den sogenannten NSU-Brief – der „energischen Bekämpfung der Feinde des deutschen Volkes“. Es bedarf auch des Wissens, dass man den Kampf für die „Reinhaltung der deutschen Nation“ und für die Schaffung einer am historischen Nationalsozialismus angelehnten Gesellschaftsordnung nicht alleine führt. Und schließlich bedarf es staatlicher Sicherheitsbehörden – in unserem Fall vor allem verkörpert durch die Ämter für Verfassungsschutz -, die den von der Szene ausgehenden Gefahren nicht adäquat begegnen, sondern vielmehr ihre schützende Hand über sie halten.“
Rechtsanwalt Dr. Stolle beschreibt den Weg in die rechte Jugendszene Anfang der 1990er Jahre so:
„Ob man sich dieser Jugendbewegung zugehörig fühlte oder nicht – das blieb trotz allem eine ganz persönliche Entscheidung. […] Wer sich damals der rechten Szene anschloss, wusste um die brennenden Flüchtlingsheime und die vielen Toten, die die Szene zu verantworten hatte; der oder die hatte somit Kenntnis von den mörderischen Folgen einer rassistischen Ideologie.“
Die damalige Stimmung beschreibt Dr. Stolle mit folgenden Worten:
„Für alle diejenigen, diediese Zeit Anfang der 1990er Jahre in Ostdeutschland erlebt haben oder die sich mit dieser Zeit beschäftigt haben, sind diese Bilder immer noch präsent: Bilder von der Alltäglichkeit der rassistischen und rechtsextremistischen Gewalt, von wehenden Reichskriegsflaggen, von brennenden Häusern, von Skinheadhorden, die den Hitlergruß zeigend, mit Baseballschlägern bewaffnet durch die Straße ziehen, „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ brüllen und alle, die nicht ins ihr beschränktes Weltbild passen, brutal zusammenschlagen […].
Diese Stimmung, die damals herrschte, die wurde fast vollständig in diesem Verfahren ausgeblendet. […] Die Angeklagten wissen, von welcher Stimmung ich hier rede. Sie haben sie selber miterlebt und selber mitgeschaffen. In ihren Einlassungen haben sie dazu geschwiegen oder diese Zeit beschönigt […] zu offensichtlich manifestierte sich in den 1990er Jahren der Zusammenhang zwischen extrem rechten Gedankengut, rassistischen Einstellungen und brutaler, menschenverachtender Gewalt.“
Rechtsanwalt Dr. Stolle sagt zur Ideologie des THS:
„Wie die Beweisaufnahme ergeben hat, waren die Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes Verfechter einer völkischen Rassenideologie und Anhänger einer nach dem historischen Vorbild zu schaffenden nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung.“
Rechtsanwalt Dr. Stolle erklärt:
„Das Zellenkonzept, das der NSU auf perfide und mörderische Weise in die Praxis umsetzte – auch das wurde in der Hauptverhandlung mehrfach belegt – war fester Bestandteil der Diskussionen in der rechten Szene der 1990er Jahren.“
Rechtsanwalt Dr. Stolle hält der Bundesanwaltschaft entgegen:
„Die Gruppe, die verantwortlich ist für die hier in der Hauptverhandlung gegenständlichen Taten […], diese Gruppe wurde nicht erst Mitte des Jahres 1998 gegründet. Wir gehen auch nicht davon aus, dass die Gruppe nur aus Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bestand. Und wir gehen ferner nicht davon aus, dass die Gruppe abgeschottet von der Szene gewesen ist.“
Ausgangspunkt für die Gründung der Vereinigung noch in Jena war nach Dr. Stolle:
„Taten statt Worte. So lautete der Leitspruch des NSU. Durch Aktionen Fanale setzen; die eigenen rassistischen und neonazistischen Vorstellungen in die Tat umsetzen – und nicht mehr nur darüber zu reden. Das war das Leitbild, die Handlungsanweisung des NSU. Die Umsetzung dieser Programmatik erfolgte allerdings nicht erst nach dem Abtauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe.“
Juristisch begründet Dr. Stolle seine Bewertung wie folgt:
„Für die Annahme einer Vereinigung im Sinne der §§ 129, 129a StGB bedarf es keiner begangenen Straftat; es reicht der vom gemeinsamen Willen getragene Zusammenschluss, in Zukunft Straftaten zu begehen. Das Ablegen von Bombenattrappen, das Einrichten einer Garage als Bombenwerkstatt, das Besorgen von zündfähigen Sprengstoff, die Ankündigung eines 'Bombenjahres' und das Herstellen von mit TNT gefüllten Rohrbomben – welcher Schluss, außer, dass in der Sektion Jena schon 1996 der Entschluss gefasst wurde, als ein vom gemeinsamen Willen getragener Zusammenschluss Straftaten zu begehen.“
Rechtsanwalt Dr. Stolle hält fest:
„Die Verbundenheit bestand nach dem Abtauchen fort – und äußerte sich in vielfältigen Unterstützungshandlungen über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe waren somit vor und nach ihrem Abtauchen weder isoliert noch abgesondert.“