Wenn schon nicht in München, dann in Berlin. Angehörige von NSU-Opfern fordern endlich nachhaltige Aufklärung über die Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Wenn schon nicht in München, dann in Berlin.

Angehörige von NSU-Opfern fordern endlich nachhaltige Aufklärung über die Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

 

Rechtsanwalt Scharmer, Rechtsanwältin von der Behrens und Rechtsanwalt Dr. Stolle werden am Donnerstag (02.06.2016) die Sitzung des NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages in Berlin verfolgen. Dort soll zumindest damit begonnen werden, die Rolle des V-Mann's Ralf Marschner zu untersuchen. Marschner, als V-Mann "Primus" über Jahre für das Bundesamt für Verfassungsschutz einer der wichtigsten Spitzel in Sachsen, war die zentrale Figur der Neonaziszene in Zwickau, bundesweit aktiv und vernetzt. Mehrere Zeugenaussagen und Medienrecherchen legen nahe, dass er das NSU-Kerntrio schon vor dem Untertauchen kannte und, nachdem die Drei in Zwickau untergekommen sind, Kontakt zu ihnen gehabt hat. Enge Verbindungen soll es zudem zu den bekannten Unterstützern Jan W. und Thomas S. gegeben haben. Darüber hinaus soll er möglicherweise sogar Unterstützung vor Ort in Zwickau geleistet haben. So soll Zeugen zufolge Zschäpe in einem seiner Verkaufsläden am Dienst-PC gesehen worden sein. Mundlos soll sogar für Marschners Baufirma gearbeitet haben: Eine Firma mit Aufträgen in Nürnberg und München, also den Städten, in denen 5 der 10 angeklagten Morde verübt worden sind. Für die jeweiligen Tatzeiten ist immer noch ungeklärt, wer die Tatfahrzeuge angemietet hat und ob und ggf. welche lokalen Unterstützer bei der Vorbereitung und Ausübung der Morde geholfen haben.

 

Die Bundesanwaltschaft verhindert zielgerichtet die Aufklärung zur Rolle Marschners

 

Marschners Akte wurde im Bundesamt für Verfassungsschutz, wie zahlreiche andere Akten von V-Leuten, die in Verbindung mit dem NSU-Kerntrio gestanden haben sollen, irregulär vernichtet. Nun haben Nachforschungen von Journalisten belegt: Marschner hatte Kontakt zumindest zu Mundlos und Zschäpe in Zwickau nach deren Untertauchen. Kaum waren diese Enthüllungen öffentlich geworden, hat sich insbesondere die Bundesanwaltschaft energisch bemüht, eine Verwicklung von Marschner öffentlich zu dementieren. Die Begründung lautete, es sei alles ausermittelt worden, alle Mitarbeiter von Marschner seien vernommen, ohne dass sich Hinweise auf die Tätigkeit von Mundlos in Marschners Baufirma ergeben hätten. In die Akten, die dies angeblich belegen sollen, wurden den Betroffenen des NSU-Terrors und ihren Anwältinnen und Anwälten - trotz nachhaltiger Bemühungen - keine Einsicht gewährt. Ihnen wird noch nicht einmal mitgeteilt, welche Mitarbeiter Marschners Baufirma angeblich vernommen worden sind.

 

Der Beweisantrag, Marschner und seinen V-Mann-Führer in München als Zeugen zu hören, wurde abgelehnt. Grund: Die vorgelegten Indizien für Marschners Kennverhältnis zum NSU-Kerntrio würden dem Gericht nicht genügen, um mögliches Wissen von Marschner über die Morde, Anschläge und Raubüberfälle des NSU-Kerntrios so zu belegen, dass das OLG München die beantragten Vernehmungen zwingend durchführen müsse. Ein juristischer Zirkelschluss also: ohne dass konkrete Angaben dazu von Marschner benannt werden können, wird er im Prozess nicht gehört. Ohne die von uns immer wieder geforderten Akten, die die Bundesanwaltschaft unter Verschluss hält, wird es uns allerdings auch schwer möglich sein, die Beweisanträge durch mehr Fakten zu untermauern. Eine Aufklärung in dem Verfahren vor dem OLG München wird so blockiert.

 

"Primus" - das fehlende Glied in der Kette?

 

Dabei könnte die Aufklärung der Rolle von Marschner das fehlende Glied in der Kette sein: Endlich eine konkrete Spur zu der nach wie vor ungelösten Frage, warum im Bundesamt für Verfassungsschutz gerade die V-Mann Akten vernichtet wurden, die Aufschluss über die Zeit des NSU-Kerntrios nach ihrem Untertauchen hätten bringen können. Denn hätte Marschner dem Verfassungsschutz über die Drei und ggf. ihre Taten berichtet und wäre von dort nichts unternommen worden oder aber hätte Marschner als V-Mann eine mögliche Unterstützung der Drei und ihrer mutmaßlichen Morde verschwiegen, würde das in beiden denkbaren Fällen auch das letzte ggf. noch bestehende Restvertrauen in die Arbeit des Bundesamtes nachhaltig zerstören. Das wiederum wäre ein plausibles Motiv für eine umfangreiche Vertuschung.

 

Der Untersuchungsausschuss ist die letzte Hoffnung der Betroffenen auf Aufklärung

 

Nun soll "Primus" das erstemal im 2. NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages eine Rolle spielen. Geladen sind bislang ausschließlich Polizeibeamte, die zu verschiedenen Zeiten Ermittlungen zu Marschner angestellt hatten. Ob Vernehmungen von Marschner selbst oder seinem V-Mann-Führer geplant werden, ist uns bislang nicht bekannt.

 

Wir fordern den Ausschuss auf, den Fall Marschner nachhaltig und fokussiert - ohne Rücksicht auf die Interessen des Bundesamtes für Verfassungsschutz - aufzuarbeiten. Der Untersuchungsausschuss darf sich nicht damit zu Frieden geben, an der Oberfläche zu kratzen; er darf nicht akzeptieren, dass ihm Akten oder Zeugen vorenthalten werden! Die Betroffenen verlangen nichts weiter als die ihnen versprochene schonungslose Aufklärung der Morde und Anschläge. Zu dieser Aufklärung gehören auch die Fragen: Was wusste der Verfassungsschutz wirklich über das NSU-Kerntrio? Warum wurden die Morde nicht verhindert? Warum wurden die Akten geschreddert?

 

Rechtsanwältin von der Behrens sowie Rechtanwälte Scharmer und Dr. Stolle stehen für Rückfragen und Statements am 02.06.2016 am Rande der Sitzung des Untersuchungsausschusses zur Verfügung.

 

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